
Nein, ich war nicht betrunken, und ich weiß meistens wirklich ganz genau, wohin meine Autofokuspunkte zielen. Dieses Mal zielten sie auf den Holunder, mit Absicht, obwohl mein Motiv natürlich das Segelschiff war. Der Grund für dieses scheinbare Fokus-Missverständnis ist ein ganz simpler.
Abwechslung. Alternative. Enttäuschung von Erwartungen – wie immer man es nennen will, jedenfalls geht es bei diesem Bild genau darum, es anders zu machen als normalerweise. Ich bin zwar mehr der Mainstream-Fotograf, und bei den meisten meiner Bilder hier im Projekt 366 singe ich das hohe Lied der Verständlichkeit und der schnellen Erkennbarkeit. Aber heute mache ich eben mal eine Ausnahme.
Wie das Detailfoto von gestern darf dieses Bild mit dem unscharfen Segelschiff natürlich eigentlich nicht allein stehen, sondern es gehört in eine Bildersammlung, die sich z.B. mit den Fahrten genau dieses Schiffes beschäftigt. Das könnte man auch ganz gut machen, denn die niederländische „Oban“ ist in Nord- und Ostsee als Fahrtenschiff für Gäste bekannt. Wer mehr wissen will, schaue sich die Homepage an, wem eine Basis-Information genügt, dem sage ich: 29 Meter, 1905 als Heringsfänger in Emden gebaut, heute Platz für 23 Übernachtungsgäste.
Aber es geht ja um Fotografie. Ich denke, dass es ein interessantes Mittel ist, um Spannung zu erzeugen, wenn man das eigentliche Motiv unscharf abbildet. Man muss dabei nur auf drei Dinge achten: Dass man diesen Trick nicht immer wieder einsetzt. Dass die Unschärfe nicht zur Nicht-Erkennbarkeit des Motivs führt (hier erkennt man zwar nicht die „Oban“, aber doch ein Segelschiff, man kann sogar die zwei Masten voneinander unterscheiden). Und – ganz wichtig – dass man dem Betrachter irgendwann auch mal die Auflösung anbietet, also ein anderes Foto mit scharfem Motiv.

Voilà, hier ist es. Es ist leider schon das zweite Mal innerhalb weniger Tage, dass ich mehr als das eine Foto des Tages zeige (zuletzt beim Mogel-Mond), aber ich habe einfach Mitleid mit den Menschen, denen das Unvollendete so auf die Nerven geht, dass sie keine Ruhe finden.
Übertragen auf die Musik wäre mein ursprüngliches Bild mit dem unscharfen Schiff eine Art Trugschluss: Nach dem vorletzten Akkord, der die Spannung für den erlösenden Schluss aufbaut, kommt eben nicht der von jedem menschlichen Empfinden erwartete Schlussakkord, sondern der Komponist nimmt einen anderen, der dem eigentlichen Schlussakkord zwar ähnlich ist, aber sich in einem Ton von ihm unterscheidet. Das passt dann auch zur Musik, hat aber nicht die gewünschte abschließende Wirkung. Häufig wiederholt sich nach dem Trugschluss die gesamte Schlusssequenz, um dann im zweiten Anlauf zu einem korrekten Ende zu kommen.
Ein Lied, das aber auf einem Trugschluss oder – schlimmer – auf dem vorletzten, also dem Spannung aufbauenden Akkord endet, wäre für die meisten Menschen mit normalem Hörgefühl nur schwer erträglich. Und so kann es ja auch sein mit einem Bild, das sein Geheimnis dauerhaft hinter der Unschärfe verbirgt. Damit also niemand leiden muss, zeige ich die „Oban“ hier noch einmal so scharf und schön, wie sie es verdient.
Ich finde nur das erste Foto besser.