
Dieses Bild schafft in Sachen Aufbau und Gestaltung etwas Interessantes: Es ist auf der einen Seite völlig klar – und auf der anderen Seite führt es den Betrachter (selbst wenn er eine Bildunterschrift zu lesen bekommt) in die Irre. Denn mal ehrlich: Was ist hier eigentlich zu sehen?
Ja, wir sehen einen Mann, der auf ein Paar Schuhe sieht. Und über den Schuhen ist die Zahl 90 zu erkennen. Aber was soll das? Irgendeine Idee? Vielleicht hält er gerade eine Rede beim Kongress der Schuhverkäufer. Oder er kann es nicht fassen, dass er solche edlen Lackschuhe (von Prada übrigens) für 90 Euro bekommt.
Die Bildunterschrift gibt ja schon einen Hinweis, wer oder was hier wirklich zu sehen ist, aber was der Volvo-Designchef mit einem Paar Schuhe zu tun hat, weiß man trotzdem nicht. So ist dies hier tatsächlich ein Bild, das bei allem Bemühen um optische Klarheit (ich würde sogar sagen: klarer geht es kaum) nur funktioniert, wenn man die Geschichte dahinter kennt.
Also: Ich bin heute im Volvo-Designzentrum gewesen, wo einer größeren Zahl von Journalisten aus der ganzen Welt zwei Konzeptautos vorgeführt wurden, die jeweils auf einer neuen Kompaktklasse-Architektur der Marke basieren. Chefdesigner Thomas Ingenlath hat vor der Enthüllung der beiden Autos jeweils drei Paar Schuhe gezeigt. Als erstes waren es drei paar Lackschuhe, nur in verschiedenen Größen. Sie standen für die Volvo-Modellfamilien 90, 60 und 40 – aber genau so will Ingenlath eben seine Autos nicht machen. Nicht alle gleich, nur unterschiedlich in Größe, PS und Preis.
Also zeigte er noch drei andere Schuhpaare: Wieder die Lackschuhe für die 90er-Serie, dann Wildleder für die 60er, und für die 40er-Baureihe war es ein weißer Stoffschuh, den er aber nicht als Sneaker benannt haben wollte. Was immer es war (ich bin kein Mode-Experte), es war sportlicher als der Rest, aber ebenso edel, nämlich auch von Prada.
Vielleicht war diese Einführung in die Designphilosophie ein kleiner Seitenhieb auf den großen Konkurrenten Audi (Lackschuh, Lackschuh, Lackschuh – die Audi unterscheiden sich nicht groß voneinander), vielleicht war es aber einfach nur eine Möglichkeit, Gedanken zu visualisieren.
Mir hat das gut gefallen, auch wenn es schwierig war, Thomas Ingenlath gleichzeitig mit der Kamera zu folgen. Dass er hier so in sich ruhend aussieht, ist wieder so eine typische Manipulation durch die Magie des Augenblicks. Die Kamera hält den Bruchteil einer Sekunde fest, und schon machen wir uns ein Bild von einem Menschen.
Hier denken wir sicher zuerst an jemanden, der Schuhe gestaltet und keine Autos. Und wenn wir dann die Wahrheit wissen, glauben wir, ihn als ruhigen, fast in sich gekehrten Mann kennen zu lernen.
Das ist falsch. Ingenlath steht eigentlich keine Sekunde still, wenn er präsentiert. Er lässt stets und ständig seine Hände mitsprechen, und auch davon habe ich natürlich reichlich Fotos. Wer gestikuliert, ist der Freund des Fotografen.
Das Problem ist nur, dass der Volvo-Designchef auch eine sehr ausdrucksstarke Mimik an den Tag legt, und wenn man da den falschen Sekundenbruchteil erwischt als Fotograf, dann zeigt man den Menschen nicht, sondern führt ihn vor. Ich habe jedenfalls heute nur gute Gesichtsausdrücke oder gute Gesten bekommen, bei der Kombination aus beidem wurde die Luft leider dünn. Deswegen zeige ich als mein Foto des Tages im Projekt 366 diese Porträtstudie mit Schuh.
Sie spiegelt zwar nicht den Charakter des Porträtierten wieder, aber sie sieht wenigstens gut aus.
Noch zwei Sätze zur Bildbearbeitung. Alles fand in einem Raum mit weißen Wänden und Licht von oben statt. Durch Anheben der Kontraste sowie der Lichter und der Weißtöne habe ich die kühle, fast reine Atmosphäre des Raumes noch verstärkt. Im Original ist die Rückwand leicht grau geworden, was typisch ist, wenn Belichtungsmesser rein weiße Wände anmessen, und dieses Grau hat für mich den Blick des Designers auf die Schuhe massiv unterbrochen. Wer hier schon länger mitliest, weiß ja: Ablenkung vom Wesentlichen mag ich nicht besonders.
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