
Ach, was habe ich hier lange gewartet. Die meisten Leute haben mich beim Fotografieren entdeckt und sind rücksichtsvoll um mich herum gegangen, weil sie dachten, ich wollte nur die Säulen im Bild haben. Nein, ich wollte Säulen und Menschen in Bewegungsunschärfe, deshalb saß ich an eine weitere Säule gelehnt da (1/25 bis 1/15 Sekunde war ruhig zu halten). Mir gefällt der Kontrast zwischen der Bewegung und einer starren geometrischen Struktur. Zudem bieten mir solche Bilder einen guten Einstieg in eine besondere Art der Fotografie.
Die Street Photography ist gemeint, zu der ich ein zwiespältiges Verhältnis habe. Einerseits gibt es Fotos dieser Kategorie (Menschen im Alltag mit der Kamera beobachten und ungefragt fotografieren), die mich wirklich umhauen. Andererseits habe ich für mich selbst noch nicht ausgemacht, ob ich die Kunstfreiheit des Fotografen oder das Recht am eigenen Bild des Fotografierten höher einschätzen soll.
Deswegen mache ich derzeit häufig, wenn ich Straßenszenen fotografiere, von langen Belichtungszeiten Gebrauch, so dass sich Personen nicht mehr wieder erkennen können. Echte Streetfotografen werden an dieser Stelle milde lächeln, weil sie über diese Skrupel längst hinweg sind, und weil es sie auch nicht stört, einfach auf wildfremde Menschen draufzuhalten, selbst aus nächster Entfernung.
Wenn ich mit meiner Spiegelreflex losziehe, fühle ich mich allerdings auch selbst immer beobachtet – ich habe das Gefühl, Fotografen mit großen Kameras werden schneller wahrgenommen (und automatisch gemieden), deshalb denke ich durchaus darüber nach, eine kleinere Alternative anzuschaffen. Vielleicht irgend etwas von Fuji oder Olympus mit relativ großem Sensor und 35-Millimeter-Objektiv.
Wobei ich ja immer sage, dass nicht die Kamera das Bild macht, sondern der Fotograf. Und vielleicht gehen meine Skrupel nicht weg, wenn ich eine kleine Knipse in der Hand habe – was mache ich dann? Sonst wüsste ich nämlich nicht, wofür ich Kameras einsetzen soll, die nicht groß und schwer und Spiegelreflex sind. Nennt mich altmodisch, aber ich mag die dicken Dinger einfach.
Noch kurz zu diesem Bild: Die Läuferin hat nichts gemerkt, oder es war ihr egal. Ort der Handlung ist die Fußgänger-Unterführung zwischen Messe, ICC und Busbahnhof in Berlin, die orangefarben gekachelten Säulen (es leben die Siebziger!) sind sicher dem einen oder anderen bekannt, viele Foto- und Videoproduktionen haben hier schon stattgefunden.
Ich habe an eine weitere Säule gelehnt dort gesessen und mich zum einen um Symmetrie bemüht (beinahe gelungen) und zum anderen gewartet, dass jemand vorbeigeht, der a) schnell genug ist, b) nicht das Gesicht abwendet und c) möglichst nah herankommt.
Das hat insgesamt rund 45 Minuten gedauert (ich bin allerdings auch mal aufgestanden und habe andere Motive gesucht), aber dann hatte ich doch Glück, wie ich finde. Die Joggerin trägt nämlich sogar noch blau, was einen schönen Kontrast zum Orange gibt, weil Orange und Blau nun mal Komplementärfarben sind (jedenfalls nach Goethes Farbenlehre).
In der Bildbearbeitung musste ich hinterher noch einiges tun. So habe ich nicht nur die üblichen Verstärkungen von Kontrast, Klarheit und Dynamik gemacht sowie Feintuning an der Gradationskurve, sondern es ist eine Vignette hinzugekommen sowie ein Dunkel-Hell-Verlaufsfilter von rechts nach links, um den Blick Richtung Joggerin zu lenken.
Zudem habe ich das Orange noch mit den Farbreglern optimiert und zusätzlich gesättigt und den Weißabgleich Richtung kühl (also blau) verschoben, so dass der Boden jetzt schön grau ist. Zuletzt musste die Joggerin mit Radialfilter und Korrekturpinsel etwas aufgehellt werden. Und dann habe ich noch ein paar gelbe Aufkleber an der Säule weggestempelt.
Es ist zwar typisch Berlin, dass alles beschmiert und beklebt wird, aber ich wollte mir meine Orange-Blau-Kombination nicht verderben lassen.