
Das Beste, was man über Kunst sagen kann, ist, dass sie einen inspiriert. Gestern habe ich ein Buch gelesen mit dem Titel „Big Shots! Die Geheimnisse der weltbesten Fotografen“ (Henry Carroll, Midas-Verlag, 22,90 Euro). Darin habe ich ein Foto gesehen, dem ich ohne die liebevolle Beschreibung des Autors vielleicht gar keine große Bedeutung beigemessen hätte – der Grat zwischen Kunst und Banalität ist in der Fotografie ja ziemlich schmal. Aber Carroll hat es verstanden, mir nahezubringen, warum dieses Bild Beachtung verdient. Und darum habe ich heute versucht, etwas Ähnliches herzustellen.
Es geht um ein Werk des 2015 verstorbenen schwedischen Fotografen Lars Tunbjörk, es heißt „42nd Street and Eighth Avenue“, und es zeigt genau das: ein relativ unspektakuläres Stück New York, Alltag, nichts weiter. Entscheidend ist der Bildaufbau oder besser: die Absicht in der Anordnung der Bildelemente.
Ich erkläre Tunbjörks Bild hier nicht weiter, sondern wende mich meinem zu, das ich mit einem ähnlichen Ansatz fotografiert habe. Auf den ersten Blick sieht es banal aus, das gebe ich zu – jeder hat ja schon mal eine S-Bahn in den Bahnhof einfahren sehen.
Achten Sie aber vielleicht mal auf die beiden blauen Schilder: Ich wollte tatsächlich, dass das Wort „Ostbahnhof“ jeweils vollständig zu lesen ist, das davor stehende „Berlin“ jedoch nicht. Außerdem befindet sich im Hintergrund ein Hostel, das wegen seiner Nähe zum Ostbahnhof den Namen „Ostel“ trägt. Auch dieser Schriftzug sollte ganz im Bild sein.
Und dann fand ich, dass eine S-Bahn durch die Szene fahren sollte, also mit Bewegungsunschärfe. Ohne Stativ war das mit einer Belichtungszeit von 1/25 Sekunde gar nicht so einfach, ich habe insgesamt rund 90 Mal abgedrückt, bis ich zufrieden war.
Die Bildwirkung entsteht nicht unbedingt durch die komplette Lesbarkeit der drei Schriftzüge, das ist mehr ein Detail, das man später entdecken kann, und das die Sorgfalt in der Ausführung belegt – ich sag’s einfach mal, bevor es keiner merkt 😉
Es ist das sehr strenge Zusammenspiel von waagerechten und senkrechten Linien, kombiniert mit durchgehender Tiefenschärfe, das hier eine konstruierte und wenig lebendige Atmosphäre schafft. Die zweifellos fahrende S-Bahn deutet zwar darauf hin, dass in dieser Stadt auch Menschen leben, das Bild belegt es sonst aber nicht – auf mich wirkt die Szene unbewohnt, ein bisschen unheimlich auch, so wie in dem Film „28 Hours“ oder der Serie „The Walking Dead“.
In der Bildbearbeitung habe ich diesen Eindruck vor allem durch das Verschieben des Weißabgleichs in Richtung Blau (kühl) verstärkt, während das Anheben der Sättigung der eher pastelligen Farben dem Foto eine Spur Unwirklichkeit verleiht.
Das Bild ist das Ergebnis eines etwa zweistündigen Aufenthalts am Bahnhof, den ich heute zusammen mit meiner Praktikantin besucht habe. Zum Schluss habe ich für uns einen kleinen Fotowettbewerb ausgerufen: Eine Stunde Zeit für zehn coole Detailaufnahmen und drei Fotos, die erkennbar machen, dass wir in einem Bahnhof sind.
Den Rest der Bilder muss ich noch sichten, und ich stelle ihn dann entweder hier oder auf meiner Homepage (www.stefananker.com) zu einer kleinen Collage zusammen, aber ich habe gleich gewusst, dass ich dieses Motiv hier als mein Foto des Tages im Projekt 366 präsentieren will. Als ich zu den anderen Bahnsteigen herüber sah, fiel mir sofort das Bild von Tunbjörk ein, und diese Inspiration wollte ich nicht mehr loslassen. 25 von meinen 60 Minuten habe ich an meinem Motiv gearbeitet – ich bin sehr zufrieden damit (gefährlich, soll man ja nicht sein), und ich bin gespannt auf Kommentare.
Wer mehr Bilder von Lars Tunbjörk sehen will, findet sie leicht in der Google-Bildersuche. Oder hier bei www.theredlist.com.